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- …und der Zukunft zugewandt? – Über jüdische Geschichte[n] in der DDR
…und der Zukunft zugewandt? – Über jüdische Geschichte[n] in der DDR
Eine Konferenz des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien Potsdam am Jüdischen Museum Berlin
18. bis 20. Oktober 2023
Ort: Berlin (W. M. Blumenthal Akademie des Jüdischen Museums Berlin) und Potsdam
Einsendefrist: 30.4.2023
Über 30 Jahre nach dem Epochenbruch von 1989/90 hat nicht nur ein Wandel in der Historiographie der DDR begonnen. Auch die Geschichte von Jüdinnen und Juden in der DDR, ebenso wie der jüdischen Gemeinden hat in Wissenschaft und Öffentlichkeit neues Interesse gefunden. Die Eröffnung einer Sonderausstellung am Jüdischen Museum Berlin im September 2023 zu diesem Thema und ein neues Forschungsvorhaben am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien (Potsdam) bilden deshalb den Anlass für eine Konferenz des Moses Mendelssohn Zentrums, die sich dem Thema zuwenden und neue Forschungsperspektiven und Erkenntnisse zusammentragen will.
Unter der Überschrift …und der Zukunft zugewandt? Über jüdische Geschichte[n] in der DDR sollen die Erwartungen und Enttäuschungen ebenso wie das Engagement und die Erfahrungen von Jüdinnen und Juden in der DDR thematisiert und auf dieser Grundlage zugleich die Geschichte des sozialistischen Staats neu vermessen werden. Gerade nach der Katastrophe des Holocaust wirft die Betrachtung der verschiedenen Lebenswege ostdeutscher Jüdinnen und Juden zahlreiche Fragen auf: Was hat sie zum Verbleib oder zur Rückkehr in die DDR bewogen? Welche persönlichen und politischen Hoffnungen waren mit dem neuen Gemeinwesen verbunden? Und in welchem Maße entsprach die Rückkehr zugleich der Einwanderung in eine sozialistische Utopie, die als Reaktion auf die Gräuel der Vergangenheit Zukunft und Halt versprach? Mit der Frage nach den Hoffnungen und Erwartungen verbindet sich zugleich jene nach Enttäuschungen: Wie wurde der subkutane und gelegentlich offene Antisemitismus innerhalb der DDR erlebt und gedeutet; wie wurde das Ausweichen der DDR vor einer expliziten Thematisierung und Verantwortungsübernahme für den Holocaust wahrgenommen? Und wie unterschieden sich sowohl die Hoffnungen als auch die Enttäuschungen von denjenigen, die sich etwa für eine Rückkehr in die Bundesrepublik entschieden?
Will die Konferenz einerseits den gesamten Zeitraum vom Ende des Zweiten Weltkriegs, über die Gründung der DDR bis zu deren Niedergang und der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten in den Blick nehmen, versucht sie andererseits auch die unterschiedlichen jüdischen Selbstverständnisse und Zugehörigkeiten in der DDR abzubilden: Unsere Perspektive will die Geschichte der Gemeinden mit den Erfahrungen jener Jüdinnen und Juden in der DDR verschränken, die sich außerhalb jüdischer Institutionen bewegten, gelegentlich sogar auf Distanz zu ihrer eigenen Herkunft gerückt waren. Auf dieser Grundlage soll die Geschichte der Jüdinnen und Juden in der DDR auf der Konferenz aus politischer, kultur- und alltagsgeschichtlicher Perspektive diskutiert und zugleich mit einem Blick über die Grenzen des sozialistischen Staats hinaus in einen transnationalen Zusammenhang gerückt werden. Dies bedeutet u.a., dass wir den Blick auf die jüdische DDR-Geschichte auch um einen deutsch-deutschen Blick erweitern wollen: welche Parallelentwicklungen, etwa im Bereich der Erinnerungskultur oder lokalen Geschichtsforschung, lassen sich gerade über die Systemgrenze hinweg beobachten?
Während die Chronologie der politischen Ereignisse weitestgehend bekannt ist, soll sich unser Blick wesentlich von den Geschichtserfahrungen der Akteur:innen leiten lassen: Welche politischen Handlungsspielräume hatten Jüdinnen und Juden in der kurzen „Zwischenzeit“ 1945–1949, in welchem Maße vermochten sie, ihre Erfahrungen in der jungen DDR politisch einzubringen und wo stießen sie an die Grenzen der ideologischen Prägung von Staat und Partei? Wie wiederum wurde der Schock des Slánský- und des geplanten Merker-Prozesses (1952/53) erlebt und welche langfristigen Auswirkungen hatte die antisemitisch gefärbte Kampagne und die daraus folgende Fluchtbewegung auf die verbliebenen jüdischen Gemeinden und jüdische Einzelpersonen in der DDR? Ähnliche Fragen lassen sich auch mit Blick auf die politischen Deutungen von Israel und dem Nahostkonflikt stellen, zumal sie im politischen Bekenntnisdruck auf jüdische Institutionen und Personen während des Junikriegs 1967 kulminierten. Mit dem Blick auf Kreise politischer Dissidenz gerät ein anderer Gegenstand in den Blick. Denn wenngleich jüdische Fragen hier bis in die 80er-Jahre kaum zum Thema geworden waren, bleibt zu diskutieren, inwiefern sich in den Stimmen der politischen Opposition auch Residuen jüdischer Geschichtserfahrungen Geltung verschafften.
Von diesem Bereich des Politischen hebt sich wiederum eine kulturgeschichtliche Perspektive ab. Mit einem nach innen gerichteten Blick auf die jüdischen Gemeinden, sollen auf der Konferenz einerseits die Probleme und Herausforderungen der Gestaltung und Aufrechterhaltung eines eigenständigen Kulturlebens angesichts von äußerem Druck und geringen Mitgliederzahlen zum Thema werden. Welche Möglichkeiten zur Pflege von jüdischem Kulturerbe bestanden für die Gemeinden? Davon unterscheidet sich andererseits die Fragen nach den Möglichkeiten und Grenzen, jüdische Geschichtserfahrungen, Selbstverständnisse und kulturelle Ausdrucksformen in der breiteren Öffentlichkeit seh- und hörbar zu machen. Die Bereiche von Funk- und Fernsehen sollen hier ebenso diskutiert werden, wie der Ort von jüdischen Themen und Personen innerhalb von Publizistik und Verlagswesen. Eine solche Schwerpunktsetzung, die auch die Bedeutung jiddischer Musik innerhalb der DDR thematisiert, ermöglicht zudem, nach den Schnittmengen zwischen jüdischer und nicht-jüdischer Bevölkerung bei der Pflege des jüdischen Kulturerbes zu fragen.
Über die Grenzen des ostdeutschen Teilstaats hinaus, wollen wir die Geschichte von Jüdinnen und Juden in der DDR zuletzt in einen transnationalen Zusammenhang rücken. Zum Gegenstand sollen dabei nicht nur die fortdauernden familiären und politischen Kontakte in die ehemaligen Emigrationsländer oder der innerdeutsche Kontakt zwischen jüdischen Gemeinden, politischen Institutionen und ehemaligen Emigrant:innen, aber auch Überlebendenverbänden werden. Auch die Beziehungen und der Austausch der jüdischen Gemeinden in andere Länder des Ostblocks oder die Netzwerke jüdischer Schriftsteller:innen, Musiker:innen oder Künstler:innen können hier in den Fokus rücken. Zuletzt wird damit auch eine vergleichende Perspektive auf die Dynamiken jüdischer Selbstverständnisse möglich, die die Trennungslinie des Kalten Krieges unterliefen. Welche parallelen und unterschiedlichen Wirkungen hatte etwa die antisemitische Welle in Polen 1968 auf die Jüdinnen und Juden in Ost- und Westdeutschland; in welchem Maße ist die Entstehung der Frankfurter Jüdischen Gruppe einerseits und der Ostberliner Initiative „Wir für uns“ Ausdruck eines ähnlichen Zeitbewusstseins; und wie wurde die Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten unter der jüdischen Bevölkerung Ost- und Westdeutschlands wahrgenommen?
Ausgeschöpft ist der thematische Rahmen der Konferenz damit jedoch noch nicht. Deshalb laden wir zu Vortragsvorschlägen ein, die unserem Versuch, die Geschichte von Jüdinnen und Juden neu und von ihren Erwartungen und Enttäuschungen sowie von ihren Erfahrungen und Selbstdeutungen ausgehend zu schreiben, folgen.
Vortragsvorschläge von max. einer Seite mit einem kurzen CV können bis zum 30. April 2023 an tagungen-mmz@uni-potsdam.de übersandt werden. Fördermittel für diese Konferenz werden beantragt, können zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht garantiert werden. Wir bemühen uns jedoch, zumindest Unterkunft und Reisekostenzuschuss ermöglichen zu können.